Geburtsland der Sauberkeit
Handelnd von der Schweiz, dem Patrizierparadies Europas. - Zusammenstoß mit den ehernen Gesetzen der eidgenössischen Fremdenindustrie. - Ich versuche, einem Repräsentanten der heimischen Bevölkerung einen Witz zu erzählen, habe keinen Erfolg und begehe Selbstmord durch Erhängen. - Illegale Unterwanderung der Schützenvereine. - Entlarvung der sprichwörtlichen Schweizer Zuverlässigkeit. - Verzweifelte Lage eines Schimpansen in Zürich. - Über die Unmöglichkeit einen Pappendeckelrest loszuwerden.
Der Reisende, der in Mailand einen Zug in nördlicher Richtung besteigt, wird nach einigen Stunden Fahrt eine seltsame Verwandlung beobachten können: Die Waggons haben plötzlich zu quietschen aufgehört, die Fahrgäste bringen fieberhaft ihr Äußeres in Ordnung und klauben alle Papierschnitzel vom Boden weg, das Geräusch der Räder läßt einen klaren Rhythmus erkennen, und sogar die Fenster werden wie durch Zauberhand durchsichtig. Dann durchfährt der Zug einen dieser unvermeidlichen, endlos langen Tunnels - und wenn er wieder ins Freie kommt, ist man in der Schweiz.
Jetzt tritt auch im Benehmen der Passagiere eine deutliche Veränderung ein. Sie scheinen alle zu den oberen Zehntausend zu gehören. So distinguiert ist die Schweiz. Mutter war eine deutsche Baronin, Vater ein französischer Großfabrikant, und alle Verwandten sind Millionäre; bis auf das schwarze Schaf der Familie, den italienischen Onkel über den man im Gespräch höflich hinweggeht.
Die Schweiz ist der Traum des Kleinbürgers und des Großbürgers. Und der Sozialisten. Und der Revolutionäre und Konservativen und Nihilisten. Die Schweiz, kurzum, ist der Inbegriff aller menschlichen Sehnsüchte. »Schweiz« bedeutete soviel wie »Frieden«. Man könnte die Schweiz auch mit Israel vergleich, nur ohne Araber an den Grenzen. Wohin man blickt, herrscht Ruhe, Ordnung, Disziplin, Hygiene, Fleiß und Moral.
Ist das nicht furchtbar!
Auch die Hotels halten den höchsten Standard. Es gibt kein Feilschen, keine unangenehmen Überraschungen, kein Straucheln über die Trinkgeldfrage. In jedem Hotel hängt eine deutlich sichtbare Tafel mit Hausregeln und Preislisten, und weder von den einen noch von den anderen wird auch nur im mindestens abgewichen. Unser Hotel in Zürich machte uns beispielsweise mit der folgenden Tarifbesonderheit vertraut:
»Klimaanlage im Zimmer: 10 % des Tagespreises.«
Mit Recht. Klimaanlagen bedeuten das Nonplusultra an Komfort. Durch einen kleinen, in unerreichbarer Höhe angebrachten Apparat wird die ozonreiche Schweizer Luft, sorgfältig temperiert und gefiltert, in das geschmackvoll eingerichtete Zimmer geleitet. Jeder Atemzug trägt zum Wohlbefinden des Gastes bei. Mag draußen ein noch so heißer Schirocco das Leben unerträglich machen - das Zimmer bleibt erfrischend kühl. Leider kann es manchmal geschehen, daß es keinen Schirocco gibt, und daß, im Gegenteil, die Luft draußen erfrischend kühl ist. Dann allerdings verwandelt sich das geschmackvoll einrichtete Zimmer in eine Eisgrube.
Infolgedessen ging ich zum Hotelmanager und bat:
»Exzellenz! In unsrem Zimmer ist es kalt. Mörderisch kalt. Bitte stellten Sie die Klimaanlage ab!« Exzellenz zogen die Hausregeln zu Rate und antworteten freundlich:»Mein Herr, Sie haben ein Zimmer mit Klimaanlage genommen.«
»Gewiß. Aber jetzt ist es kalt draußen, und ich möchte, daß Sie dieses verdammte Ding abstellen.«
»Das geht leider nicht. Unsre Klimaanlage ist zentral betrieben.«
»Ich werde mir eine Erkältung zuziehen.«
»Dann müssen Sie wärmere Kleider nehmen«, sagte der Manager und war mir sichtlich böse, daß ich ihn zu einem Bruch der Hausregeln verleiten wollte.
Ich machte einen letzten Versuch:
»Stellen Sie die Klimaanlage ab - und ich zahle Ihnen trotzdem die zehn Prozent Aufschlag. Einverstanden?«
Nun war es mit der Selbstbeherrschung des Managers zu Ende. Für derlei levantinische Sitten hatte er nichts übrig. Sein Gesicht lief rot an.
»Mein Herr«, sagte er eisig. »Für nicht geleistete Dienste können wir unseren Gästen nichts berechnen. Wenn Sie für etwas zahlen, dann bekommen Sie es auch. Das ischt alles.«
Und mit einer unwidersprechlichen Handbewegung scheuchte er mich von seinem Antlitz hinweg.
Ich kehrte in unsre Tiefkühlanlage zurück und beriet mit meiner Gattin, wie wir dem Tod durch Erfrieren vielleicht doch noch entgehen könnten. Schließlich kauerten wir uns eng umschlungen hinter einen Mauervorsprung, der uns einigen Schutz gegen die unablässig eindringenden Kaltluftströmungen verhieß.
Einige Minuten später klopfte es diskret an der Türe. Nein, die Schweizer sind keine Unmenschen. Ein Zimmermädchen brachte uns einen elektrischen Heizstrahler und zwei Decken.
Nach und nach gestalteten sich meine Beziehungen zum Manager etwas freundlicher. Er entpuppte sich - wie alle Schweizer, wenn man sie näher kennenlernt - als ein sehr netter Kerl, nur in Fragen der Haus- und sonstigen Ordnung verstand er keinen Spaß. Und wie sich zeigte, war das nicht einmal der einzige Spaß, den er nicht verstand. Eines Abends unterhielten wir uns über die Weltlage. Nachdem er mir die schweizerische Neutralität und ich ihm die bedrohte Lage Israels erklärt hatte, sah ich den Zeitpunkt gekommen, einen jüdischen Witz zu erzählen.
»Kennen Sie diesen?« begann ich. »Zwei Juden fahren in der Eisenbahn -«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach mich der Manager und rückte seine Brille zurecht. »Was für Juden? Ich meine: woher kamen die beiden Herren?«
»Von irgendwoher. Es ist gleichgültig.«
»Von Palästina?«
»Spielt keine Rolle. Schön, von Palästina. Oder sagen wir besser Israel. Und -« »Ich verstehe. Sie wollen andeuten, daß die Geschichte bald nach der Gründung Ihres Staates spielt.«
»Richtig. Aber es hat eigentlich nichts mit der Geschichte zu tun. Zwei Juden fahren in der Eisenbahn -«
»Wohin?«
»Egal. Nach Haifa. Es ist wirklich ganz unwichtig. Der Zug fährt plötzlich in einen langen Tunnel ein, und da -«
»Einen Augenblick. Gibt es denn auf der Strecke nach Haifa einen Tunnel?«
»Dann fahren sie eben nach Jerusalem. Gut? Also der Zug -« »Entschuldigen Sie, mein Herr. Ich fürchte, daß es auch auf der Strecke nach Jerusalem keine Tunnels gibt.
Mein Bruder war mit einer Roten-Kreuz-Mission in Palästina, als es noch unter britischem Mandat stand, und er hat mir nie etwas von Tunnels erzählt.«
»Es spielt auch gar keine Rolle. Das sagte ich Ihnen doch schon. Es ist für meine Geschichte ganz gleichgültig, wo die beiden im Zug fahren. Nehmen wir an, sie fahren in der Schweiz. Und -«
»Ah, in der Schweiz! Und um welchen Tunnel, wenn ich fragen darf, handelt es sich? Um den Simplon? Um den St. Gotthard? Oder vielleicht-«
Jetzt war es an mir, zu unterbrechen: »Es ist vollkommen unwichtig, was für ein Tunnel es war!« rief ich. »Meinetwegen kann es auch der Schlesinger gewesen sein!«
»Der Schlesinger-Tunnel?!« Der Manager brach in dröhnendes Gelächter aus. »Hervorragend! Ein hervorragender Witz! Entschuldigen Sie - das muß ich sofort unsrem Chefportier erzählen. Der Schlesinger-Tunnel! Hahaha...«
Bald darauf schüttelte sich das ganze Hotel vor Lachen. Ich schlich auf die Toilette, ließ es mir angelegen sein, jedes Aufsehen zu vermeiden, und erhängte mich still an einer garantiert unzerreißbaren Schweizer Krawatte.
In Italien hat es den Anschein, als wären die Häuser nur gebaut worden, um den leeren Raum zwischen den Kathedralen auszufüllen. In der Schweiz haben die Banken eine ähnliche Funktion, nur füllen sie dort den leeren Raum zwischen den Uhrengeschäften aus. Möglicherweise verhält sich das auch umgekehrt. Für den Besucher ergibt sich jedenfalls der zwingende Eindruck, daß die Schweizer Bevölkerung fast ausschließlich aus Uhrmachern und Bankiers besteht. Erst nach einiger Zeit kommt man dahinter, daß es damit nicht getan ist. Es gibt Bankiers, die Uhrenhandlungen besitzen, und nicht wenige Besitzer von Uhrenhandlungen sind zugleich Besitzer von Bankaktien.
Fremden gegenüber legt die Schweiz, ihrer vornehmen Abkunft eingedenk, eine gewisse Zurückhaltung an den Tag. Um einem echt schweizerischen Klub beitreten zu können, muß man in den meisten Fällen eine Mischehe eingehen. Und es verstreichen oft zwanzig Jahre, ehe ein in der Schweiz lebender Nichtschweizer das erste Ausweispapier bekommt, die »Provisorische Identitätskarte für einen vorübergehend in der Schweiz wohnhaften Ausländer kurz vor der Abreise«.
Die einzigen wirklichen Schwierigkeiten hat man aber auch in der Schweiz mit den Juden.
In der Schlußphase des letzten Krieges beging die kleine Schweiz den Fehler, der den menschenfreundlichen Großmächten niemals unterlaufen wäre: Sie nahm eine Menge verfolgter Juden auf. Das mußte sie bitter büßen. Als der Sturm vorüber war, verabsäumte es ein beträchtlicher Teil dieser Juden, sich in alle vier Winde zu zerstreuen, wie man es eigentlich von ihnen erwartet hatte. Die blieben im Lande, wurden tüchtige Uhrmacher und Bankiers und erregten dadurch das Mißtrauen der Regierung. Mindestens einmal im Monat bekommen sie von den Schweizer Behörden schön gedruckte Prospekte zugeschickt, die ihnen in glühenden Farben die landschaftlichen und wirtschaftlichen Vorzüge anderer Länder schildern und mit der ebenso höflichen wie unmißverständlichen Frage schließen: »Wann gedenken Sie abzureisen?«
Darauf antwortet der Ausländer, daß es maximal noch ein paar Jahre dauern könnte und daß er demnächst beginnen würde, sich nach einem Reiseziel umsehen.
Diese niedlichen Spielchen wird in den besten Traditionen des Kalten Kriegs ungefähr fünfzehn Jahre fortgesetzt, bis der Ausländer genug hat und eines Tages eine Mitteilung ungefähr folgenden Wortlauts an die Behörde ergehen läßt:
»Es wird Sie vielleicht wundern, aber ich habe nicht die Absicht, die Schweiz zu verlassen. Warum sollte ich? Ich fühle mich hier sehr wohl.«
Von da an läßt man ihn in Ruhe und begnügt sich damit, seine provisorische Aufenthaltsbewilligung in regelmäßigen Intervallen durch eine etwas weniger provisorische zu ersetzen, was jedesmal mit einem neuen Verhör und der Erfüllung neuer Bedingungen verbunden ist: Der Fremde muß nachweisen, daß er nur noch in Ausnahmefällen deutsch spricht und sich im allgemeinen jenes Idioms bedient, das in manchen Kreisen als »Schwyzerdütsch« und in manchen als »Alpenjiddisch« bezeichnet wird; daß er ein überdurchschnittlicher Kegler ist; daß er ein Bankguthaben und womöglich eine Bank besitzt; und daß er im benachbarten Schützenverein mit einem leichten Infanteriegewehr auf hundert Meter Entfernung eine Punktwertung von mindestens 75 erzielt hat.
So ein Schützenverein ist eine ernste Sache. Die Schweizer tragen schwer daran, daß es seit jenem historischen Tag, an dem Wilhelm Teil den Apfel vom Kopf seines Söhnchens herunterschoß, in der ganzen Schweiz keine einzige größere militärische Aktion mehr gegeben hat. Dessenungeachtet - und gerade darum - legen sie Wert darauf, als ein wehrhaftes Volk zu gelten, und man muß zugeben, daß sie sich seit dreihundert Jahren unermüdlich auf ihren Großen Vaterländischen Krieg vorbereiten. In jüngster Vergangenheit hat es auch schon ein paarmal so ausgesehen, als ob - aber dann kam doch immer wieder etwas dazwischen, ohne daß die Schweizer ihre kriegerischen Qualitäten beweisen konnten. Sie haben eben kein Glück.
Höflichkeit. Tüchtigkeit. Pünktlichkeit.
In der Schweiz muß man pünktlich sein, denn auch die Schweizer sind es. Pünktlich wie die Uhrzeiger. Alle öffentlichen Plätze, ob unter freiem Himmel oder gedeckt, strotzen von öffentlichen Uhren, und noch im kleinsten Bäckerladen gibt es mindestens zwei. Dem aus Asien kommenden Besucher fällt es nicht immer leicht, das Vertrauen, das die Schweiz in seine Pünktlichkeit setzt, zu rechtfertigen.
Zum Beispiel hatte ich mich für Dienstagabend mit einem Theaterdirektor verabredet, pünktlich um 22 Uhr 15, nach der Vorstellung. Am frühen Abend kam ich in mein Hotel, und da ich die beste Ehefrau von allen bei Freunden abgegeben hatte, blieb mir noch genügend Zeit für ein gesundes Schläfchen. Ich ließ mich mit dem Empfang verbinden und bat, um 21 Uhr 45 geweckt zu werden, denn ich wollte zu dem für mich sehr wichtigen Rendezvous auf die Minute pünktlich erscheinen.
»Gern«, sagte der Empfang. »Angenehme Ruhe.«
Im sicheren Bewußtsein, daß die berühmte Zuverlässigkeit der Schweiz für mich Wache hielt, fiel ich in tiefen, kräftigen Schlummer. Mir träumte, ich wäre ein original schweizerischer Pudel, umhegt und gepflegt und in Luxus gebettet. Als das Telefon läutete, sprang ich erquickt aus dem Bett und griff mit nerviger Hand nach dem Hörer:
»Danke schön«, sagte ich. »Ist es jetzt genau 21 Uhr45?«
»Es ist 19 Uhr 30«, sagte der Empfang. »Ich wollte nur Ihren Auftrag bestätigen, mein Herr. Sie wünschen um 21 Uhr 45 geweckt zu werden?«
»Ja«, sagte ich.
Mit Hilfe des bewährten Lämmerzähl-Tricks schlief ich bald wieder ein, schon beim dreißigsten Lamm. Aber zum Träumen reichte es diesmal nicht. Bleierne Schwere hatte mich befallen und ich fand mich nicht sogleich zurecht, als das Telefon ging.
»Danke«, stotterte ich verwirrt in die Muschel. »Ich bin schon wach.« »Schlafen Sie ruhig weiter«, sagte der Empfang. »Es ist erst 20 Uhr. Aber ich werde in einer halben Stunde abgelöst und wollte mit der Weitergabe Ihrer Ordre ganz sicher gehen. Mein Nachfolger soll Sie um 21 Uhr 45 wecken, nicht wahr?«
Mühsam brachte ich ein »Ja« hervor und versuchte aufs neue einzuschlafen. Nach dem sechshundertsten Lamm lag ich noch immer wach. Ich begann Böcke zu zählen. Ich ließ sie über Zäune springen und wieder zurück. Das erschöpfte mich so sehr, daß ich einschlief. Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich vom schrillsten Telefonsignal geweckt wurde, das es je auf Erden gab.
Mit einem Satz war ich beim Apparat:
»Schon gut - schon gut - danke.«
Dabei warf ich einen Blick nach der Uhr. Sie zeigte auf 20 Uhr 30.
»Entschuldigung«, sagte mit neuer Stimme der Empfang.
»Ich habe soeben die Weckliste übernommen und sah
Ihren Namen für 21 Uhr 45 vorgemerkt. Ist das richtig?«
»Das... ja... es ist richtig. Danke vielmals.«
»Entschuldigen Sie.«
»Richtig.«
Diesmal blieb ich auf dem Bett sitzen und starrte aus glasigen Augen vor mich hin. Wann immer ich einzunicken drohte, riß ich mich hoch. Manchmal schien es mir, als hätte das Telefon geklingelt, aber das waren nur Halluzinationen, wie sie bei plötzlichen Herzanfällen manchmal auftreten.
Um 21 Uhr 35 hielt ich es nicht länger aus, ließ mich mit dem Empfang verbinden und fragte den neuen Mann, ob alles in Ordnung wäre.
»Gut, daß Sie anrufen«, sagte er. »Ich war eben dabei nochmals zu kontrollieren, ob es unverändert bei 21 Uhr 45 bleibt.«
»Unverändert«, antwortete ich und blieb zur Sicherheit am Telefon stehen.
Pünktlich um 21 Uhr 45 kam das Signal. Ich seufzte erleichtert auf.
An die weiteren Vorgänge kann ich mich nicht erinnern. Als ich am nächsten Morgen erwachte, lag ich noch immer neben dem Telefontischchen auf dem Teppich, die Hand um den Hörer verkrampft. Der Theaterdirektor, den ich sofort anrief, war wütend, gab mir dann aber doch ein neues Rendezvous, pünktlich um 22 Uhr 15, nach der Vorstellung. Um nur ja kein Risiko einzugehen, verlangte ich ein Ferngespräch mit Tel Aviv und gab dem bekannt zuverlässigen Weckdienst der dortigen Telefonzentrale den Auftrag, mich um 21 Uhr 45 MEZ in Zürich zu wecken. Der Weckdienst rief mich auch wirklich keine Sekunde vor 21 Uhr 45 an. Übrigens auch um 21 Uhr 45 nicht. Er hat mich überhaupt nie angerufen.
Die Schweiz ist ein dreisprachiges Land. Abgesehen vom Engadin - das einen vierten Volksstamm mit eigener Sprache aufweist, von dem ich aber nur das englischsprechende Hotelpersonal kenne-, wird die Schweiz von deutschen, französischen und italienischen Schweizern bevölkert. Die Deutschen sprechen französisch, und die Italiener sprechen über die Arbeitsbedingungen. Die Deutschen verachten die Franzosen, die Franzosen verachten die Deutschen, beide verachten die Italiener, und alle drei verachten die Ausländer.
Bevor wir unsern ersten Spaziergang in Zürich unternahmen, plauderte ich ein wenig mit dem Hotelportier.
»Man hat mir gesagt, daß die Schweizer ihre Fahrräder unverschlossen auf der Straße stehen lassen. Stimmt das?«
»Selbstverständlich, mein Herr.«
»Und kommt es nie vor, daß eines gestohlen wird?«
»Selbstverständlich werden sie gestohlen. Wer sein Fahrrad unverschlossen auf der Straße stehen läßt, verdient nichts Besseres. Besonders jetzt, wo es von Fremden wimmelt...« Jeder fünfte Mensch in der Schweiz ist ein Ausländer. Ich bekam die Nummer 1100005, meine Frau die Nummer 1100010.
Trotz alledem gibt es auch Schweizer Emigranten. Sogar nach Israel sind schon ein paar echte, in der Schweiz geborene Schweizer gekommen. Warum? Was hat sie dazu getrieben, das Land zu verlassen? Der Grund liegt klar zutage: Es war die
Reinlichkeit.
Gelegentlich eines Besuches im Züricher Zoo hielten wir vor dem Affenkäfig an und beobachteten die Schimpansenmutter, deren Lieblingsbeschäftigung bekanntlich darin besteht, Flöhe zu jagen. Die Züricher Schimpansenmutter durchsuchte die Kopfhaut ihres Söhnchens eine halbe Stunde lang nach irgendeinem Insekt und fand keines, wie verzweifelt sie auch kratzte und wühlte. Schließlich gab sie es auf, kauerte sich in die Ecke des Käfigs und starrte trübsinnig vor sich hin.
»Ich weiß nicht, was wir dagegen tun sollen«, klagte der Wärter. »Wir haben schon Flöhe importiert, aber sie können sich an die Schweizer Hygiene nicht gewöhnen und nehmen Reißaus. Wie wird das enden?«
Ich konnte ihm keinen Rat geben. Ich konnte ihm nur vom reichen, blühenden Insektenleben des Staates Israel erzählen, in den ich bald wieder zurückkehren würde. Als wir uns verabschiedeten, sah ich Tränen in des Wärters Augen blinken.
Unsere erste Begegnung mit der übernatürlichen Schweizer Sauberkeit erfolgte auf der weltberühmten Bahnhofstraße. Wie hatten eines der umliegenden Warenhäuser durchwandert und waren auf der tadellos funktionierenden Rolltreppe in die vierte Etage gelangt, wo wir zwei tadellos verpackte Schokoladeschnitten erwarben, in Cellophan, mit Tellerchen aus Pappe und ebensolchen Löffelchen. Auf dem Weg ins Hotel konnten wir uns nicht länger zurückhalten, öffneten die Verpackung und taten uns an den Schnitten gütlich. Sie schmeckten wunderbar. Noch nie im Leben hatten wir so wunderbare Schokoladeschnitten gegessen, außer vielleicht zwei Tage zuvor in Italien.
Kaum war der letzte Bissen verschluckt, als in unsrem Rücken aufgeregte Zurufe erschollen. Jemand kam uns nachgerannt.
»Entschuldigen Sie«, keuchte ein wohlsituiert aussehender Herr. »Sie haben ihre Tellerchen verloren!«
Damit hielt er uns die beiden schokoladeverschmierten Pappendeckel hin, die wir auf dem Höhepunkt unsrer Völlerei achtlos weggeworfen hatten.
»Entschuldigen Sie«, sagte auch ich. »Wir haben das Zeug nicht >verloren<. Entschuldigen Sie.«
»Ja was denn sonst?«
»Was meinen Sie? Wieso ja was denn sonst?«
»Wie hätte ich es sonst auf dem Straßenpflaster gefunden?«
In diesem Augenblick riß die beste Ehefrau von allen den klebrigen Abfall, den der ehrliche Finder noch immer in der Hand hielt, mit einem raschen »Danke schön!« an sich und zerrte mich weiter.
»Bis du verrückt geworden?!« zischte sie mir zu. »Hast du vergessen?!«
Ich erbleichte. Ja, ich hatte vergessen, daß wir uns in der reinlichen Schweiz befanden, in der blitzblanksten Straße ihrer saubersten Stadt. Auch nicht das kleinste weggeworfene Papierchen war zu sehen. Höchstens da oder dort auf dem Straßenpflaster der eine oder andre ausgebleichte Fleck, der beim Scheuern nicht restlos verschwunden war. In der Ferne liquidierte ein gutgekleideter Straßenkehrer mit einem antiseptischen Besen einige Brotkrumen. Sonst nichts als Sauberkeit, Sauberkeit, Sauberkeit. Und dieses makellose Panorama hatte ich durch den Wegwurf zweier schmutziger Pappendeckel zu verunstalten gewagt! Von Scham und Reue zerfressen, faltete ich die beiden Reste behutsam zusammen, mit den Klebeseiten nach innen.
»Das wäre soweit in Ordnung«, sagte ich zu meiner befriedigt nickenden Gattin. »Aber was jetzt? Ich kann das Zeug nicht die ganze Zeit mit mir herumschleppen. Schließlich bleiben wir noch zwei Wochen in der Schweiz...«
»Sei unbesorgt. Wir werden schon etwas finden, wo wir's auf gesetzliche Weise loswerden. Eine offizielle Abfallstelle oder so etwas.«
Es war elf Uhr vormittag, als sie das sagte. Um zwei Uhr nachmittag hielt ich die beiden Pappendeckelreste noch immer in meinen von Schweiß und flüssiger Schokolade verschmierten Händen. Wenn wir wenigstens ein Papier zum Einwickeln gefunden hätten! Aber dem sehnsüchtig suchenden Blick zeigte sich nichts dergleichen.
Wir bestiegen einen Triebwagen der sprichwörtlich sauberen Zürcher Straßenbahn und setzten uns an ein offenes Fenster. In ein lebhaftes, gestenreiches Gespräch vertieft, warteten wir auf die erste brauchbare Kurve. Dort warf ich den Pappendeckelbrei mit einer raschen Bewegung zum Fenster hinaus.
Die Bremsen kreischten. Nach wenigen Metern kam der Wagen zum Stillstand. Ich stieg folgsam aus, um den verlorenen Wertgegenstand zu holen, und bedankte mich beim Wagenführer: »Sehr aufmerksam von Ihnen. Glücklicherweise ist den Dingern nichts passiert. Danke vielmals.«
Jetzt gerieten wir allmählich in Panik. Mit dem Mute der Verzweiflung wandte ich mich an einen älteren Herrn, der in unsrer Nähe saß, und fragte ihn, was er täte, wenn er sich zum Beispiel eines schmutzigen Stückes Papier entledigen wollte. Der ältere Herr dachte nach und meinte dann, der von mir angenommene Fall sei so unwahrscheinlich, daß er sich ihn kaum vorstellen könne, aber rein theoretisch gesprochen würde er das Papier zu sich nach Hause nehmen und es am Sonntag verbrennen. Ich weihte ihn in mein Geheimnis ein und fügte hinzu, daß das fragliche Papiermaterial in die Kategorie »Abfall« gehörte. Daraufhin gab er mir seine Adresse und lud uns für den nächsten Nachmittag ein; wir könnten dann gleich ein paar Monate zu Gast bleiben, seine Frau würde sich freuen.
Ich war drauf und dran, seine Einladung anzunehmen, besann mich aber rechtzeitig, daß wir uns ja gar nicht so lange in der Schweiz aufhalten wollten, dankte ihm mit überströmender Herzlichkeit und gab ihm zu verstehen, daß ich von seinem Angebot nur in einem unvorhergesehenen Dringlichkeitsfall Gebrauch machen würde; mittlerweile sei mir nämlich ein andrer, näherliegender Ausweg eingefallen: ich würde das Zeug als »Muster ohne Wert« mit der Post nach Israel schicken.
»Aber was werden sie in Israel damit machen, erkundigte sich besorgt mein theoretischer Gastgeber.«
»Sie werden es in den Jordan werfen.« Damit war er beruhigt, und wir nahmen tränenreich Abschied voneinander.
In einem alleenreichen Villenvorort stiegen wir aus. Mein Plan, die Dunkelheit abzuwarten und das Papierbündel unter einem Baum zu vergraben, erwies sich leider als undurchführbar, weil alle Bäume mit schmiedeeisernen Schutzgittern umgeben waren. Hängenden Kopfes trotteten wir in die Stadt zurück.
Und da - plötzlich - mitten in der Stadtmitte - an einem Laternenpfosten - sah ich einen Abfallbehälter hängen, einen wirklichen, wahrhaftigen, zauberhaft gelb gestrichenen Kasten mit der Inschrift: HALTET ZÜRICH REIN! ABFÄLLE - HIER!
Ich torkelte hin, umklammerte den Kasten wie ein Fliehender die rettende Freistatt, warf den Pappendeckel hinein und schloß meine Frau, deren Antlitz von einem unirdischen Lächeln der Glückseligkeit strahlte, in die Arme. Dann machten wir uns Hand in Hand auf den Weg ins Hotel.
»Entschuldigen Sie«, sagte der Polizist, der uns nach wenigen Schritten aufhielt. »Sie müssen Ihr Päckchen wieder herausnehmen. Das ist ein ganz neuer Abfallkorb. Wir wollen ihn reinhalten.«
»Ja... aber...«, lallte ich und deutete mit einer lahmen Gebärde auf die Inschrift. »Es heißt doch ganz ausdrücklich: Abfälle - hier!«
»Das gilt nur für Kehricht. Nicht für Müll oder sonstige kompakte Gegenstände. Haltet Zürich rein.«
Ich senkte meinen Arm tief in den Abfallkorb und fischte den Pappendeckel heraus. Mir war zumute wie einem verendenden Reh. Meine Stimme klang mir selber fremd, als ich mich an die beste Ehefrau von allen wandte:
»Es bleibt nichts anderes übrig. Ich muß es aufessen.«
»Um Himmels willen! Untersteh dich nicht, dieses dreckige Zeug in den Mund zu nehmen!«
»Gut«, flüsterte ich. »Dann lasse ich's kochen!«
Damit stürzte ich in das Restaurant, an dem wir gerade vorbeikamen. Der Oberkellner sah mich und eilte herbei.
»Abfallpapier?« fragte er diensteifrig. »Wünschen Sie es gedünstet oder gebraten?«
»Gebraten, bitte. Halb englisch.«
»Wie üblich«, nickte der Ober, legte das Zeug auf einen Silberteller und trug es in die Küche.
Nach zehn Minuten brachte er es zurück, dampfend und mit Gemüsen garniert. Ich nahm den ersten Bissen und spuckte ihn aus:
»Das ist ja angebrannt!« rief ich. »Vollkommen ungenießbar!«
Wir sprangen auf und enteilten. Vor unsrem geistigen Auge erschien der gute, alte Rothschild-Boulevard in Tel Aviv mit hunderten kleinen Abfallhäufchen, die in der strahlenden Sonne des Mittelmeeres lustig glitzerten.